Schwyzer Avantgarde: Kein vernünftiges Land mit einem ausgebauten Sozialstaat verscherbelt sein Bürgerrecht

Der Ruf nach erleichterten Einbürgerungen gehört zu den Evergreens der linken Politik. Auch Deutschland will es den Ausländern einfacher machen. Aber wieso eigentlich? Was fortschrittlich sein soll, ist am Ende sogar schädlich.

In Schwyz, wo ich aufgewachsen bin, konnte man mit 18 Jahren mitbestimmen, wer Schweizer wird und wer nicht. Die Gemeinde schickte mit den Abstimmungsunterlagen immer auch kurze Lebensläufe. Ob Ivan Petrovic und Birte Rüdiger den Schweizer Pass erhalten sollen, wurde in Schwyz so behandelt wie die Schuldenbremse oder der Uno-Beitritt. Es waren politische Fragen. In ein viereckiges Feld konnte man «Ja» oder «Nein» schreiben oder gar nichts. Ich fand diese Praxis damals empörend, heute sehe ich es ein bisschen anders.

Im Jahr 2001, in dem ich zum ersten Mal abstimmen konnte, wurden 55 von 114 Gesuchen abgelehnt. Wer aus der Türkei kam oder aus Jugoslawien, hatte es schwer. Ihre Chancen an der Urne konnten sie mit dem Engagement im Fussballverein und mit Leserbriefen etwas verbessern. Im «Boten der Urschweiz» verbürgten sich jeweils einflussreiche Dorffiguren für ihre mustergültige Integration. Denn eine Einbürgerung war – wie jede andere Abstimmung auch – oft nur mit einer guten Kampagne zu gewinnen. Aber selbst dies reichte nicht immer.

2003 setzte das Bundesgericht dem Treiben ein Ende: Urnenabstimmungen über Einbürgerungen wurden verboten.

Viele Schwyzer zürnten dem Gericht, fühlten sich eines demokratischen Rechts beraubt. Mittlerweile behandelt in der Gemeinde eine Einbürgerungsbehörde die Anträge. Allerdings müssen die Gesuche immer noch im Amtsblatt publiziert werden. Die Bürger können schriftliche Einwände machen, andernorts entscheidet die Gemeindeversammlung. Die Idee, dass Einbürgerungen nicht nur ein Verwaltungsakt, sondern eine öffentliche Angelegenheit sind, hat sich gehalten.

Kenntnisse zu «Ländler» als Voraussetzung

Bis heute ist der Kanton Schwyz für Ausländer ein hartes Pflaster geblieben. Wer Schweizer werden will, muss seine Integration in einem Test dokumentieren können, mündlich oder schriftlich. 2014 haben die Einsiedler einem emeritierten ETH-Professor den Pass verweigert. Der Amerikaner lebte zwar schon 39 Jahre in der Schweiz, aber er wusste nicht, wie viele Seen es im Kanton gibt. Auch über Freunde im Dorf hatte er kaum etwas Substanzielles zu berichten. Das gefiel den Einsiedlern nicht.

Für Schlagzeilen sorgte auch die Schwyzer Gemeinde Arth. Hier wurde 2017 einem Italiener, der damals seit 27 Jahren in der Schweiz lebte, die Einbürgerung verwehrt, weil er das Wort «Ländler» nicht kannte («Schwyzerörgeli» war ihm allerdings ein Begriff). Ebenfalls wusste er nicht, dass im nahen Tierpark Goldau Bären und Wölfe im selben Gehege leben. Schliesslich intervenierte das Bundesgericht und ordnete die Einbürgerung an.

Ein gesundes Gemeinwesen

Solche Entscheide sorgen jeweils für mediales Getöse. Schnell ist auch der Vorwurf des Rassismus und der Willkür da, manche Schweizer scheinen sich für ihre «rückständigen» Mitbürger zu schämen. Allerdings ist es deutlich komplizierter.

Als die Einsiedler zum Beispiel den amerikanischen Professor ablehnten, bürgerten sie gleichzeitig sechzehn Personen ein, die meisten von ihnen stammten aus Deutschland und dem Balkan. Die Herkunft des Professors hat beim Entscheid wohl kaum eine Rolle gespielt. Die Einsiedler dürfte eher die Arroganz geärgert haben, dass hier einer glaubte, den Pass einfach so zu bekommen. Die akademischen Meriten haben niemanden beeindruckt, im Gegenteil.

Einzelne Exzesse gibt es immer: Auskünfte über Tiergehege gehören bestimmt dazu. Allerdings zeigen die Einbürgerungs-Mikromanager in Schwyz vor allem, dass sie sich um das Wohl ihrer Gemeinde kümmern, dass es ihnen nicht egal ist, wer den Schweizer Pass und damit die gleichen Rechte erhält. Sie erwarten, dass sich Schweizer mit dem Land identifizieren, sich mit der Kultur auseinandersetzen. Dies spricht für ein gesundes Gemeinwesen.

Zu strenge und zu lasche Entscheide

Viele Journalisten und linke Politiker neigen dazu, die Mitsprache der Bevölkerung generell zu problematisieren. Je mehr die Einbürgerungen entpolitisiert werden, je mehr sie zu Verwaltungsakten werden, desto gerechter die Entscheide, so die Vorstellung. Wie die Kriterien für eine Einbürgerung zu streng ausgelegt werden können, können sie aber auch zu lasch interpretiert werden.

Wenn sich etwa ein Schweizer mit kosovarischen Wurzeln in einem Verfahren über Sozialhilfebetrug nur per Dolmetscher verständigen kann (es gab diesen Fall in Meilen 2011), ist bei dessen Einbürgerungsprozess etwas schiefgegangen. Nicht nur eine Gemeindeversammlung kann politisch entscheiden, auch Beamte tun es zuweilen. Auch sie nutzen Spielräume, lassen sich von Sympathien leiten, drücken ein Auge zu. Wer glaubt, eine Behörde würde weniger Fehler machen als eine Gemeindeversammlung, der könnte sich täuschen.

Der Pass muss verdient werden

Dass heute nicht mehr brieflich über Einbürgerungen abgestimmt werden kann, ist trotzdem richtig. Damals war es zu einfach, anonym und oft allein basierend auf Vorurteilen Menschen den Pass zu verweigern. Das war auch der Grund meiner damaligen Empörung. Die Gemeinde benutzte die Abstimmungen, um ihren Unmut über die Zuwanderung zu äussern: Ex-Jugoslawen wurden oft einzig deshalb nicht eingebürgert, weil sie Ex-Jugoslawen waren. Manchmal kannte man die Familien, weil ihre Kinder zur gleichen Schule gingen. Man wusste, dass sie integriert waren.

Trotzdem sehe ich die verhältnismässig hohen Hürden in der Schweiz positiv. Von Bewerbern wird ein ernsthaftes Interesse erwartet. Integration ist nicht einfach eine leere politische Hülse, sie ist die Bedingung für den Schweizer Pass. Sie muss mit Sprachkenntnissen und Engagement dokumentiert werden können. Der Wissenstest geht weit darüber hinaus, was die meisten aus der autochthonen Bevölkerung über ihr Land wissen.

Die Schweiz signalisiert damit: Dieser Pass wird nicht verschenkt, er muss verdient werden. Diese Leistungsorientiertheit und auch der Stolz, den viele Gemeinden mit dem Bürgerrecht verbinden, irritiert vor allem die Linken. 2021 versuchten die Sozialdemokraten durchzusetzen, dass in der Schweiz geborene Ausländer automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten sollen. Im März dieses Jahres lancierten die Grünliberalen einen Vorstoss, damit das Schweizer Bürgerrecht schon nach sieben anstatt zehn Jahren beantragt werden könnte. Beide Vorhaben scheiterten. Aber sie zeigen, worauf die Linke zielt: Von Ausländern soll weniger als bisher gefordert werden. Im Gegenzug hofft man, das Vorschuss-Vertrauen werde mit Integration belohnt.

Zweifel am Nationalstaat

Wer es im Zweifel mit der Integration nicht so ernst nimmt, gilt als progressiv. Als rückständig, wer ein klares Bekenntnis zum Gemeinwesen fordert. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass viele Linke mit dem Nationalstaat fremdeln, dass sie ihn als eine Peinlichkeit empfinden, die es zu überwinden gilt. Wenn wir dereinst eh alle in einer friedlichen, globalen und grenzenlosen Gemeinschaft zusammenleben, kann man die Pässe auch heute schon verramschen.

Nicht nur in der Schweiz stellt sich immer wieder die Frage, wie hart oder weich die Kriterien für den Pass sein sollen. In Deutschland wollen nun auch die Sozialdemokraten «den letzten Staub der Kaiserzeit aus dem Einbürgerungsrecht» klopfen. Geht es nach dem Willen der SPD und ihres Kanzlers, so soll die Bedingung, mindestens acht Jahre in Deutschland zu leben, auf fünf Jahre reduziert werden. Eine doppelte Staatsbürgerschaft soll möglich werden. Und wer über 67 ist und immer noch nicht deutsch kann, soll den Pass trotzdem erhalten dürfen.

Ernüchterung eines Migrationsforschers

Was fortschrittlich sein soll, ist naiv und am Ende sogar schädlich. Der niederländische Migrationsforscher Ruud Koopmans war im Jahr 2002 angetreten, um die Überlegenheit der niederländischen Integrationspolitik gegenüber der deutschen in einer Studie zu demonstrieren. Sein Heimatland vertrat eine Multikulti-Politik: Ausländer wurden schnell eingebürgert, Sprachanforderungen gab es kaum, die doppelte Staatsbürgerschaft war erlaubt, Ausländer hatten das kommunale Wahlrecht. Demgegenüber wirkte Deutschland wie eine Steinzeitnation.

Die Ergebnisse verblüfften Koopmans allerdings. In den Niederlanden war die Arbeitslosigkeit unter Zuwanderern viel höher als in Deutschland, noch drastischer war die Diskrepanz bei der Abhängigkeit von Sozialhilfe.

Die Quote der Erwerbstätigen war unter den Deutschtürken deutlich höher als unter den niederländischen Türken. Und dies obwohl fast alle Türken in der Niederlande sowohl die türkische als auch die niederländische Staatsbürgerschaft besassen. Umso mehr wundert sich der Forscher in seinem Artikel in der «FAZ» von 2017 darüber, dass Forderungen an Zuwanderer immer noch als «Integrationsbarrieren» behandelt werden.

Die Avantgardisten

Mattias Tesfaye, ehemaliger Integrationsminister von Dänemark, Sozialdemokrat und Sohn eines äthiopischen Flüchtlings, sagte in einem Interview mit der NZZ, er wisse, dass manche Länder die Staatsbürgerschaft als Motivation nutzen wollten, damit sich Menschen integrieren. Dies sei aber der falsche Weg. «Die Staatsbürgerschaft sollte am Ende des Weges stehen, nicht am Anfang», so Tesfaye. Im Wesentlichen entspricht dies, trotz den rituellen Anfechtungen von Links, auch dem Schweizer Modell.

Wer glaubt, das Zusammenleben werde schöner, friedlicher und inniger, wenn erst die Erwartungen an die ausländischen Mitbürger gesenkt werden, der irrt. Kein vernünftiges modernes Land mit einem ausgebauten Sozialstaat sollte auf die Idee kommen, sein Bürgerrecht zu verscherbeln. Modelle, die darauf abzielen, dass sich Menschen assimilieren und das Identitätsangebot eines Landes annehmen, sind erfolgreicher. Im Grunde ist in der Schweiz das geforderte Sprachniveau B1 für eine Einbürgerung schon zu gnädig.

Und hier ist man wieder bei den Schwyzern, die wieder ein bisschen pingeliger sind: bei denen im Deutsch mündlich das Niveau B2 verlangt wird, bei denen Bewerber um den Schweizer Pass eine Charta unterzeichnen müssen, in der sie die demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung der Schweiz anerkennen. Die Konservativen sind bei der Einbürgerungsfrage die Avantgardisten. In vielen Parteibüros, Ämtern und Redaktionen hat man das allerdings noch nicht begriffen.

https://www.nzz.ch/meinung/erleichterte-einbuergerung-was-progressiv-sein-soll-ist-naiv-ld.1718273