Marokko verschiebt die Plattentektonik des Weltfußballs

Eine Mannschaft, die Talent und Passion vereint, beflügelt von einer ganzen Region: Als erstes afrikanisches und arabisches Land erreicht Marokko ein WM-Halbfinale.

Den Schrei muss weit zu hören gewesen sein, vielleicht sogar bis Lissabon. Als der Schlusspfiff nach 99 Spielminuten dieses sporthistorische Ereignis besiegelte, das sich im Al-Thumama-Stadion in Doha ereignet hatte, stieg der Geräuschpegel noch einmal mächtig an – dabei hatte man sich als Beobachter vorher schon gefragt, ob das überhaupt noch möglich wäre. Denn die Menge hatte während des gesamten Spiels keine Sekunde lang Ruhe gegeben. Dann, mit dem Schlusspfiff die Erkenntnis: Doch, es war möglich.

Hinter beiden Toren rissen Tausende Fans aus Marokko und anderen Unterstützerländern die Arme hoch. Auf den Oberrängen wehten rote Flaggen mit grünem Stern. Auch die Einheimischen in ihren traditionellen weißen Dishdashas, die sich üblicherweise neutral verhalten, sprangen auf. Alkohol ist verpönt in der Gegend, aber das Rauschmittel Fußball haben sich die Katarer ins Land geholt, mit viel Geld. Nun galt die höchste Eskalationsstufe.

Nach dem Achtelfinalsieg gegen den früheren Weltmeister Spanien gelang Marokko die nächste Überraschung: Im Viertelfinale schlug das Team Portugal, den Europameister von 2016, mit 1:0. Marokko hat gute Fußballer, die Mannschaft ist technisch beschlagen und verteidigt sehr diszipliniert. Ihre große Stärke jedoch ist ihre Leidenschaft, die sie in jede Aktion legt, auf jedem noch so kleinen Fleckchen des Platzes.

Dabei wird das Team bei dieser WM von der gesamten arabischen Region beflügelt. Die Mannschaft hat einen Auftrag erhalten, und sie nimmt ihn an. Nun lässt sich allenfalls noch streiten, ob man betont, dass erstmals eine afrikanische oder eine arabische Nation im Halbfinale einer Fußballweltmeisterschaft steht. Eines aber ist gewiss: Marokko hat die Plattentektonik des Weltfußballs an diesem Tag verschoben.

Mut war angesagt, nicht Verstecken

Kamerun war 1990 nah dran gewesen am Halbfinale, scheiterte aber am England Gary Linekers. Auch Ghana war 2010 kurz davor, Uruguay im Viertelfinale zu besiegen. Dass es nun Marokko als erste Nation Afrikas unter die letzten Vier der Welt schafft, ist indes kein Zufall. Denn Marokko ist – fußballerisch betrachtet – das europäischste Land des afrikanischen Kontinents. So gut wie alle Spieler sind in Frankreich oder Spanien beschäftigt. Manche sind Flüchtlingskinder.

In der Szene des Spiels war Sevilla-Stürmer Youssef En-Nesyri auf einem fliegenden Teppich unterwegs, als er in der 42. Minute aufstieg und hoch in den Lüften stand. Diogo Costa, Portugals Tormann, boxte ins Leere. En-Nesyris Kopfball setzte noch mal auf und sprang dann aufwärts ins verlassene Tor. 1:0 für Marokko. Das Tor des Tages.

Es war nicht der typische Treffer eines Außenseiters. Denn er hatte sich angebahnt. Marokko griff an in der ersten Halbzeit; nicht dauerhaft, aber immer, wenn sich die Gelegenheit ergab. Nicht Verstecken, sondern Mut war angesagt. Azzedine Ounahi, 22 Jahre alt, die schlaksige Nummer 8, ließ Gegenspieler ins Leere laufen. Hakim Ziyech von Manchester City überzeugte mit Ballfertigkeit.

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