Gestrandet mit Anna Schneider

Markenbotschaft in erster Person: Wie ein Springer- Projekt und seine Fürsprecherin einen halbierten Freiheitsbegriff propagieren.

Auf der Seite der Freiheit ist man gut aufgehoben. Alle wollen frei sein. Seit der Pandemie ist die Freiheit besonders hoch im Kurs. Wer da nicht ungewollt Teil eines Kollektivs werden will, muss sich schon etwas einfallen lassen.

Bei der „Welt“, der Zeitung, die es zu ihren Pflichten zählt, ihren Lesern die Allmacht des Staates vorzuführen, gibt es seit einiger Zeit ein Ressort namens Freiheit. Es ist Teil eines Projekts, das einerseits der Selbstversicherung der Leser und ihres autonomen Lifestyles dient. Andererseits versorgt es sie mit weltanschaulichem Angebot aus der Sphäre des Widerstands gegen den sogenannten Kollektivismus. Geleitet wird es von der Journalistin Anna Schneider, einer einnehmend freundlichen Österreicherin, die einen wesentlichen Teil dieses Corporate-Markenkerns bei Springer ausfüllt.

Nur wer ganz bei sich selbst ist und nicht über die Befindlichkeiten anderer nachdenkt, schreibt Schneider, lege seine Möglichkeiten frei: der Geistesblitz des Individuums gegen die Trägheit der Masse. Ihr Vorbild ist Ayn Rand, eine in Amerika kultisch verehrte Bestsellerautorin, die Steuern als Raub bezeichnete und den Staat hasste. Alle, die auf ihn angewiesen waren, nannte Ayn Rand „Parasiten“. Ganz so drastisch klingt es bei Anna Schneider nicht. Aber in Fernsehtalkshows und auf Twitter vertritt sie gern Thesen, auf die ihre vielen Follower und Kritiker zuverlässig reagieren, spricht von Klimafanatikern, schreibt, Erbschaftsteuer sei „Leichenfledderei“, und fragt, warum die ARD Millionen für Rechte an der WM in Qatar gezahlt hat, um sie nun heuchlerisch anzuprangern.

Sie kann es gut retweeten

Manchmal kommentiert dann je­mand, der Individualismus sei doch überall, in der Konsumkultur und der Verheißung individuellen Glücks. Oder der Rundfunk sei verpflichtet, über die WM zu berichten. Oder jemand fragt sich, was das eigentlich für ein Liberalismusbegriff sein soll, wenn man die einzige Steuer verteufelt, mit der unverdientes Einkommen belegt wird. Anna Schneider mag es, wenn Menschen über sie in Rage geraten. Man kann es gut retweeten.

Es muss schön sein, zu den Anna Schneiders dieser Welt zu gehören, zu den mündigen Bürgern, die ihre Freiheit im Sinne Sartres heroisch begreifen. Alle anderen sind für sie Hasenherzen. Wenn jemand sich etwas nimmt, was auch ein anderer will, mag das dessen Freiheit begrenzen. Es darf nur nicht das Ziel sein. Böse klingt das, aber ist ein wenig Verderbtheit nicht viel spannender als das Schwimmen mit dem Strom der Achtsamen?

Vor zwei Wochen ist bei dtv Anna Schneiders erstes Buch erschienen. Es heißt „Freiheit beginnt beim Ich“ und legt nahe, dass die Autorin nicht bloß die Marke Springer vertritt, sondern es mit dem Radikalindividualismus ernst meint. Es stehen viele Sätze darin, an denen man nichts aussetzen kann, „Freiheit ist Freiheit“ zum Beispiel oder „Ohne Freiheit ist alles nichts“. Auch Kant hat seinen Auftritt. Eine der Kernaussagen ist, dass die Freiheit seit der Pandemie umgedeutet wurde, von der individuellen zur kollektiven.

Beunruhigend und kernlos

Schneiders Aphorismen funktionieren so aneinandergereiht zwar nicht so wie auf Twitter, trotzdem verkauft sich das Buch gut. Es mag an den Passagen liegen, in denen es etwa heißt, dass niemand so recht weiß, was „sozial“ eigentlich bedeutet, dieses „Wiesel-Wort“. Oder in denen es um den „Nanny-Staat“ geht, der die Tugenden des Einzelnen erstickt. Der Begriff „Nanny-Staat“ hat ziemlich Konjunktur, man hört ihn auch in Podcasts und im Fernsehen. Von der „Lehre von den Opferhierarchien“ war noch nicht so viel die Rede. Damit meint Schneider, dass jemand, der zum Beispiel schwul und schwarz ist, als mehrfach diskriminierter Mensch unter den Opfern mehrfach privilegiert ist. Gender Studies: ein Opferstudium. Oft und gern benutzt Schneider auch das Wort „Infantilisierung“ für Momente, in denen der Staat schützend eingreift. Das verhindere Selbstbestimmung.

Zwar kritisiert Anna Schneider die FDP, die sich aus ihrer Sicht unmöglich gemacht hat, als sie die Impfpflicht auf ihre Agenda nahm. Aber ganz so fern liegt die Idee nicht, dass hier politisch Anschluss gesucht wird, gewissermaßen in einem Bund der Vereinzelten. Der Satiriker Jan Böhmermann jedenfalls veröffentlichte am Freitag eine Parodie auf Fahndungsplakate aus der RAF-Zeit, die Porträts von Schneider, „Welt“- Chefredakteur Ulf Poschardt, Christian Lindner sowie anderen FDP-Politikern zeigte. Diese satirische Warnung vor der liberalen Radikalisierung empörte die Liberalen, die vorher in radikalen Posen Eigenwerbung gemacht hatten.

Warum kann der Begriff der Freiheit so leicht und folgenlos vereinnahmt werden? Er ist so fluide wie die Sache, die er bezeichnet. Wir definieren Freiheit so, wie wir unseren Alltag erleben, und abstrahieren dabei nach Belieben von dem einen oder dem anderen der beiden Elemente, die man aus dem Begriff nicht streichen kann. Da ist zum einen die Abwesenheit von Zwängen. Und zum anderen eine legitimierte übergeordnete Gewalt, die das Recht des Einzelnen auf Freiheit durchsetzt und schützt. Wegen ihrer Ambivalenz kann die Freiheit das Gegenteil dessen bewirken, was sie schaffen soll: Furcht, Isolation und Ohnmacht. Ein Liberalismus, der diese Ambivalenz anerkennt, ist im Kern sozial. Und das Kernlose, was Schneider für Springer als Liberalismus verkauft, ist beunruhigend.

„Böhmermann kann mir nichts“

In ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ beschreiben die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey anhand ihrer empirischen Studien zu Querdenkern, Impfgegnern und anderen Gruppen, die sich grollend gegen gesellschaftliche Bevormundung stemmen, wie sich die negative Freiheitsidee zu einer Identifikation mit der eigenen Autonomie entwickelt hat. Für sie hat diese Variante des Liberalismus etwas Autoritäres an sich, wegen der Weigerung, individuelles Verhaltens einzuschränken und sich auf Kompromisse einzulassen. Anna Schneider wird erwähnt. Sie hat reagiert und nennt die These vom Autoritarismus „pervers“.

Neulich hatte Schneider in Berlin ihre Buchpremiere. Das Gespräch verlief in gleichförmigen Wellen. Der Moderator, Micky Beisenherz, stellte Suggestivfragen: „Sind das nicht Zeiten, in denen man das Gefühl hat, dass der Staat sich ein bisschen mehr um die Bürger kümmern sollte?“ Woraufhin sich Schneider über das mangelnde Vertrauen in den Bürger amüsierte, von Missverständnissen sprach und Gegenfragen stellte. Woraufhin Beisenherz versuchte, den Faden wieder aufzunehmen, und dabei viel mehr erklärte als die Autorin. Am Ende beschwerten sich die Fans, dass Schneider so selten ausreden durfte. Danach schrieb sie auf Twitter, es habe Spaß gemacht zu streiten.

Aber statt zu streiten hatte sich Schneider aus der Diskussion herausgewieselt. Also Anruf bei ihr. Schneider ist gerade ständig in irgendwelchen Sendungen zu sehen. Danach bekommt sie Shitstorms, eigentlich täglich. Trotzdem ist sie gut gelaunt. „Böhmermann kann mir nichts“, sagt sie. Jeder weiß doch, der habe echte Probleme mit Springer.

Zweifel an der Stringenz

Schneider erzählt von den Reaktionen auf ihre „Welt“-Texte. Dass es „so eine Stimmung gibt, in der man sich fragt: Sag ich das jetzt oder lieber nicht?“. Man schreibt ihr: „Sie dürfen das noch.“ Sollten wir nicht alle den Staat kritisieren, fragt Schneider höflich. Sei es etwa fair, sie als Egoistin oder konservativ zu bezeichnen, obwohl sie Abtreibungsrechte unterstütze? „Aus meiner Sicht bin ich stringent: Das oberste Gebot ist das Selbsteigentum am Körper.“

Aber je länger man Anna Schneider zuhört, desto deutlicher werden die Konturen ihres Menschenbildes und die Zweifel an dessen Stringenz. Was traut sie dem Individuum wirklich zu, dessen Selbstverwirklichung sie zu verteidigen vorgibt? Sie beschreibt ein unreflektiertes, schwaches Subjekt, das sich sofort zurücklehnt, wenn es Hilfe bekommt, das vom deutschen Staat verwöhnt und bevormundet wird und die Selbstbestimmung irgendwann völlig verlernt. Wieso sollte es das Vertrauen, das ein autonomes Subjekt beansprucht, verdienen?

Die individuelle Selbstentfaltung be­gann in dem Moment, als sie nicht länger das Privileg Einzelner, sondern ein universeller Anspruch der Gesellschaft war. „Damit wird die Idee der individuellen Freiheit untrennbar an die sozialen Institutionen rückgebunden“, schreiben Amlinger und Nachtwey. Auf Twitter lautet derselbe Einwand so: Würde sich Schneider allein auf einer Insel freier fühlen als unter den Privilegierten in einer der wohlhabendsten Epochen der Geschichte? Darüber könnte man diskutieren, wenn man das Individuum ernst nähme. Von Anna Schneider kann man das nicht sagen.

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