Es gerät etwas ins Wanken
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Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine stürzt Zehntausende Menschen ins Verderben und bringt die europäische Sicherheitsbalance ins Wanken. Er erschüttert aber auch die deutschen Parteien, in rasantem Tempo werden jahrelange Gewissheiten abgeräumt und Kehrtwenden vollzogen. Wer noch vor zweieinhalb Monaten hü sagte, sagt nun plötzlich hott, viele Volksvertreter sind kaum wiederzuerkennen – quer durchs politische Spektrum:
Die SPD schlingert zwischen Verunsicherung, Kommunikationspannen und Kopflosigkeit hin und her. Selbst überzeugte Pazifisten sind so beschämt vom Scheitern der als "Wandel durch Handel" verbrämten Kungelei mit dem russischen Regime, dass sie sich auf die Zunge beißen und die Aufrüstung der Ukraine abnicken. Die Scham über die Machenschaften der SPD-Lobbyisten Gerhard Schröder, Manuela Schwesig und Erwin Sellering wächst von Tag zu Tag. Immer mehr Details über die dubiosen Geschäfte rund um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 kommen ans Licht: Russische Spione gingen offenbar in Schwerin ein und aus, wichtige Akten sind verschwunden, die Landesregierung paktierte mit einem ehemaligen Stasi-Offizier. Dass die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern nicht schon längst zurücktreten musste, liegt wohl nur daran, dass die Kämpfe in der Ukraine alle anderen Nachrichten in den Schatten stellen. Aber es dürfte nur noch eine Frage von Wochen sein; CDU-Generalsekretär Mario Czaja machte gestern den Anfang und forderte Schwesig zum Rückzug auf. Falls sie auf Unterstützung aus dem Kanzleramt hofft, hofft sie vergebens, auch dort mag man keinen Finger für sie rühren: Das Eisen ist zu heiß.
Einen heißen Kurs fahren derweil die Grünen. Die heimlichen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck erfreuen sich dank Omnipräsenz in den Medien, empathischer Instagram-Videos und großem Einsatz an der Sanktionsfront toller Umfragewerte. Während sie früher Exporte von Angriffswaffen in Krisengebiete verdammten, marschieren sie bei der Aufrüstung der Ukraine heute an vorderster Front. Von ihrem Vor-vor-vor-vor-Vorgänger Joschka Fischer hat Baerbock gelernt, dass die deutsche Öffentlichkeit sogar politische 180-Grad-Wenden toleriert, wenn man diese geschickt als persönliche Läuterung inszeniert.
Trotzdem rumort es in der Partei: Es ist unklar, wer eigentlich den Kurs vorgibt. Der zum Fundi-Flügel zählende Toni Hofreiter wurde bei der Ministerpostenvergabe übergangen. Also pfeift er auf die Koalitionsdisziplin und poltert seit Ausbruch des Krieges im Kampfmodus durch die Talkshows, keilt gegen den Kanzler und verlangt mehr Schießgerät für die Ukraine. Auf Twitter darf er sich über den Applaus vieler junger Leute freuen, die zwar noch nie selbst einen heißen oder kalten Krieg erlebt, aber eine klare Moralvorstellung von Gut und Böse haben. Es dürfte nur noch eine Frage von Tagen sein, bis Hofreiter die Anschaffung eines Flugzeugträgers fordert, damit die deutsche Marine Despoten rund um den Globus eins vor den Latz knallen kann.
Auch die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann wäre gern Ministerin geworden. Sie genießt parteiübergreifend Respekt für ihre verteidigungspolitische Expertise und findet sich in der hemdsärmeligen Gesellschaft von Soldaten bestens zurecht. Da aber die SPD-Politikerin Christine Lambrecht, die erkennbar wenig von Militärischem versteht, das Ministerium bekommen hat, inszeniert sich Strack-Zimmermann in Fernsehstudios als Oberkommandierende in Reserve. Ihr zweitwichtigstes Ziel (nach Putin) ist dabei Bundeskanzler Olaf Scholz, dem sie kaum verhohlen Führungsschwäche vorwirft. So vehement führt sie ihre Angriffe, man könnte glatt vergessen, dass die Liberalen ja auch in der Regierung sitzen und deren Krisenkurs mitbestimmen. Dem Ansehen der Liberalen kommt Strack-Zimmermanns "friendly fire" jedoch nicht zugute: In den Umfragen dümpelt die FDP unter 10 Prozent herum, die Mehrheit ihrer Anhänger ist unzufrieden mit der Ampelregierung.
Die AfD wiederum hat sich endgültig als ernstzunehmende Kraft verabschiedet. In der Bundestagsfraktion zoffen sich Putin-Unterstützer mit Putin-Kritikern – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der lange Arm des Kremlchefs bis in die rechtsextreme Partei reicht.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ist auch die Linkspartei damit beschäftigt, sich selbst zu zerlegen. Da fällt es kaum mehr auf, dass auch sie ein ungeklärtes Verhältnis zum russischen Regime hat.
Und die Union? In CDU und CSU leckt man sich immer noch die Wunden ob der verlorenen Bundestagswahl, im Saarland ging man ebenfalls baden, und nun wackelt auch noch NRW. Oppositionsführer Friedrich Merz versucht, seine Truppe auf einen scharfen Kontrakurs zur Bundesregierung einzuschwören; bei der gescheiterten Impfpflicht ist ihm das bereits gelungen. Und weil Olaf Scholz in Reden, Interviews und Pressekonferenzen viel dröger redet, als er es im vertraulichen Kreis tut, fällt es dem rhetorisch versierten Merz leicht, den Kanzler anzuschießen.
Sein Grundproblem jedoch bleibt: Die Union ist nach 16 Jahren Merkel so ausgezehrt, dass sie außer Norbert Röttgen keine profilierten Außen- und Sicherheitspolitiker vorzuweisen hat, die Wesentliches zur Debatte um Krieg und Frieden in Europa beizutragen hätten. Merz versucht das durch ein Feuerwerk an Schlagzeilen wettzumachen: Mal fordert er einen Bundessicherheitsrat, mal geißelt er Baerbocks "feministische Außenpolitik". Bei seiner neuesten Aktion geht er selbst ins Risiko: Merz will heute Nacht nach Kiew reisen, um dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj seiner Solidarität zu versichern (und ein paar schöne Fotos zu machen). Das Bundeskriminalamt rät dem CDU-Chef ausdrücklich von der Reise ins Kriegsgebiet ab und bittet um bessere Vorbereitung: Während des Besuchs von UN-Generalsekretär Guterres vor wenigen Tagen feuerten die Russen Raketen auf Kiew. Doch Merz will nicht verzichten, und Personenschützer vom BKA will er auch nicht. Vor der Kriegskulisse dem Kanzler vorzuwerfen, dass dieser seit Beginn des russischen Angriffs noch nicht in die Ukraine gefahren ist: Das ist für den Oppositionsführer einfach zu verlockend.
Umbruch, Abbruch, Aufbruch: Die Lage der deutschen Parteien in diesem krisengeplagten Frühjahr ist turbulent. Und eine Autorität, der die Bürger quer durch alle Milieus und politischen Lager vertrauen könnten, sucht man vergebens. Bleibt zu hoffen, dass sich aus den schrillen Debatten irgendwann eine Antwort auf die drängendsten Fragen herausschält: Welche Rolle sollen Deutschland und die EU künftig in der Welt spielen, und was sind wir bereit, dafür zu tun? Solange das nicht geklärt ist, fällt es Despoten wie Putin leicht, uns zu erschüttern.