Ein beispielloses Verbrechen und unsere Fehler in der Asylpolitik
Von: NADJA ASWAD, SASCHA BAUMANN, THOMAS HECKMANN, BURKHARD UHLENBROICH, JÖRG VÖLKERLING UND TANIA WINTERSTEIN
Der 4700-Seelenort lllerkirchberg ist ein ruhiger Pendlerort im Speckgürtel von Ulm (Baden-Württemberg). Kindergarten, Grundschule, Supermarkt, Metzger, Fuggerschloss, viele Reihenhäuser. Jeder kennt jeden.
Am Montag um 7.30 Uhr kam das Grauen in den Ort: Ein Flüchtling (27) aus Eritrea erstach Ece S. (14) auf dem Schulweg und verletzte ihre Freundin (13) schwer.
Warum er zugestochen hat, ist unklar. Der Eritreer hat sich nach dem Mord selbst schwer verletzt. Er schweigt im Krankenhaus.
Im Ort ist nichts mehr, wie es war: In den Straßen fahren Polizeiautos Streife, das Asylheim ist geräumt. Eltern bringen ihre Kinder mit dem Auto zur Schule, Ehemänner holen ihre Frauen von der Bushaltestelle ab. Bewohner beschimpfen sich hinter vorgehaltener Hand als „Nazi“ oder „Gutmensch“.
Trauernde am Tatort: Auf der Straße stehen hunderte Kerzen
Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Das will sich die rechtsradikale AfD zunutze machen. Die Partei marschierte Samstag mit 100 Mann auf. Der Demo stellten sich 70 Anwohner mit Plakaten entgegen: „Wir in Illerkirchberg trauern & stehen für Frieden, Solidarität & Toleranz.“
Der Fall von Illerkirchberg befeuert die Asyl-Debatte in Deutschland. Er ist Wasser auf die Mühlen der Flüchtlings-Gegner und ein schwerer Schlag für viele Flüchtlingshelfer. Vor allem aber wirft er ein Schlaglicht auf die Fehler des Deutschen Asyl-Systems.
70 Gegendemonstrantenstanden gestern in Illerkirchberg rund 100 AfD-Demonstranten gegenüber
Foto: Thomas Heckmann
Fakt ist: Kaum ein Land auf der Welt hat mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland. Insgesamt 2,2 Millionen, mehr leben nur in der Türkei (3,7 Millionen) und in Kolumbien (2,5 Millionen). Allein im November wurden 29 383 Erstanträge auf Asyl gestellt (Ukrainer nicht eingerechnet) – plus 78 Prozent zum Vorjahr.
Die Unterbringung, Versorgung und Integration der vielen Menschen stellt das System vor enorme Herausforderungen. „Asylverfahren ziehen sich häufig über mehrere Jahre, was insbesondere an der chronischen Überlastung der Verwaltungsgerichte liegt“, erklärt Philipp Pruy (35), Fachanwalt für Migrationsrecht. „Eine sprachliche und berufliche Integration gelingt meist erst mit Zuerkennung eines Asylstatus.“
Hinzu kommt: Auch eine Ablehnung des Asylantrages führt in der Regel nicht dazu, dass die betroffenen Menschen das Land verlassen. 300 392 Personen waren Ende Mai zwar ausreisepflichtig. Abgeschoben wurden im ersten Halbjahr allerdings nur 6198.
Wichtigster Grund: 246 560 hatten eine Duldung, durften also aufgrund von Krankheit oder fehlenden Papieren nicht abgeschoben werden. Sie leben in Deutschland ohne Perspektive, ohne direkten Zugang zum Arbeitsmarkt (nur mit zusätzlicher Arbeitserlaubnis).
Ein belastender Zustand, der keine einzige Straftat entschuldigt. Er wird jedoch auch in der Ampel stark kritisiert. „Ich bin dafür, diese Halb-Entscheidungen abzuschaffen: Es gibt zu viele Migranten, die nicht anerkannt sind, aber trotzdem bleiben dürfen – und das über viele Jahre“, sagt FDP-Fraktionschef Christian Dürr im Interview mit BILD am SONNTAG.
Um die Abschiebungen zu beschleunigen, wollte die Ampel eigentlich einen Migrationsbeauftragten einsetzen. Doch wegen des Widerstands aus dem grün geführten Außenministerium ist daraus bis heute nix geworden. „Die Ampel muss endlich ihre angekündigte Rückführungsoffensive starten, anstatt das Thema weiter zu verschleppen“, kritisiert Alexander Throm (CDU), innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, in BILD am SONNTAG.