Die Mannschaft entfremdet sich immer mehr von ihrem Publikum

Die deutschen Fussballer wirken an dieser WM seltsam entrückt. Das hat nicht nur mit den Diskussionen um die Captainbinde zu tun. Es ist das Ergebnis eines langen Prozesses.

Wie gross ist die Distanz zwischen Deutschlands Nationalelf und dem Publikum in der Heimat? Blickt man auf das vergangene Wochenende, könnte man meinen, sie betrüge relativ genau 125 Kilometer. 125 Kilometer: Das ist die Distanz zwischen dem Domizil der Deutschen im Norden Katars und dem Medienzentrum in al-Rayyan, in dem vor WM-Spielen jeweils der Nationaltrainer und ein Spieler Auskunft geben.

Am Wochenende aber hatte die deutsche Delegation es nicht für nötig befunden, einen Spieler vor dem Match gegen Spanien zu entsenden. Der Bundestrainer Hansi Flick kam alleine, und die Botschaft, die er überbrachte, rief Kopfschütteln hervor: Die Deutschen hätten die Medien gerne bei sich begrüsst. Schliesslich, so Flick, stünde ein vollwertiges Medienzentrum zur Verfügung.

Die Fifa lehnte die Offerte dankend ab, bestand auf das bewährte Prozedere. Da den Deutschen die Bitte abgeschlagen wurde, seien sie nun ein wenig «enttäuscht», sagte Flick.

Nachrichten aus einem anderen Universum

Es waren Nachrichten aus einem anderen Universum. Als solches wird der Rückzugsort im Norden Katars wahrgenommen. Und er ist nur ein Symptom mehr für die schleichende Entfremdung eines Millionenpublikums von seinem einst liebsten Kind. Sie ist messbar. In Ticketverkäufen an Heimspielen, in Einschaltquoten. Den ersten Match gegen Japan sahen am TV nicht mehr als neun Millionen Zuschauer – ein Tiefstand, wie er kaum für möglich gehalten worden war.

Gewiss zeitigt die Diskussion um den nicht sonderlich populären WM-Ausrichter Katar gewisse Effekte. Allerdings schalteten selbst zum Match gegen Spanien, in dem es für die Deutschen um viel ging, nicht mehr als 17 Millionen Leute ihre TV-Geräte ein – früher waren es bei vergleichbaren Spielen schon einmal 25 Millionen oder mehr. Dieser Wert dürfte auch am Donnerstag im letzten Gruppenspiel gegen Costa Rica kaum erreicht werden.

Es sind Anzeichen einer schleichenden Entfremdung. Dabei gibt es keinen fixen Punkt, der sich bestimmen liesse, keine Markierung, von der sich sagen liesse: Ab dann liefen die Dinge aus dem Ruder. Vielmehr ist es eine Verkettung von Ereignissen, die dazu geführt hat, dass diese Mannschaft dem Publikum immer fremder geworden ist. Sicher, es gab ein paar Anlässe, die diese Entwicklung beschleunigten: die WM 2018 etwa, als eine präpotent auftretende deutsche Mannschaft in der Vorrunde ausschied.

Angereist als Favorit, leistete sie sich eine lange Diskussion um ein Treffen ihres Mittelfeldspielers Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Özils Weigerung, Abbitte zu leisten, wurde vom Manager der Nationalmannschaft, Oliver Bierhoff, gar als Alibi genutzt, wofür er heftig kritisiert wurde. Unter der Regie des alerten Marketing-Offiziers des DFB sind sonderbare Sachen zustande gekommen, wie die zeitweilige Umetikettierung der Nationalmannschaft, die in der Folge bloss noch die «Mannschaft» hiess. Solche Beliebigkeit goutierte das Publikum nicht. Vielmehr verfestigt sich der Eindruck, dass der DFB nicht mehr weiss, wer seine Kundschaft ist.

Der Anspruch wird nicht mehr eingelöst

Zumal der Anspruch, zu den Besten zu gehören, längst nicht mehr eingelöst wurde. Die Beharrlichkeit, mit der sich der damalige Bundestrainer Joachim Löw an sein Amt klammerte, irritierte, ebenso die Unfähigkeit des Verbandes, dem Engagement nach langen, erfolgreichen Jahren ein Ende zu setzen.

So ist kaum anzunehmen, dass Löws Nachfolger und ehemaliger Assistent Hansi Flick einen grösseren Anteil an der Schieflage zu verantworten hat, in die das Verhältnis von Nationalteam und Öffentlichkeit geraten ist. Kein anderer Trainer wäre mit so viel Wohlwollen begrüsst worden wie der ehemalige Bayern-Coach, der im Ruf steht, ein Spielerversteher zu sein, der nicht zuchtmeisterlich, sondern auf kooperative Art zu Erfolgen kommt. Doch Flicks unglücklicher Auftritt vor dem Match gegen Spanien illustriert: Er hat die Gepflogenheiten im DFB sehr schnell adaptiert.

Aber ist es bloss eine Frage der Mannschaft und des Milieus, in dem sie sich bewegt? Oder hat auch der DFB einen Anteil daran? Fest steht, dass der Ruf der Institution seit Jahren leidet. Nun versuchte der ehemalige SPD-Landespolitiker Bernd Neuendorf dem Verband ein neues Profil zu geben. Bis jetzt nimmt sich die Situation eher enttäuschend aus. Die Diskussionen um die Captainbinde hinterliessen einen überforderten deutschen Stab, bis anhin fügt sich Neuendorf in die Reihe seiner Vorgänger. Theo Zwanziger, Wolfgang Niersbach, Reinhard Grindel und Fritz Keller – sie alle machten einen bisweilen überforderten, teilweise auch eitlen Eindruck.

Nun geht es um Folklore

Wie aber lässt sich das gestörte Verhältnis von Team und Publikum wieder einrenken? Wonach es verlangt, ist nicht schwer zu erraten. Keiner in dieser Mannschaft geniesst grössere Sympathien als der Mittelstürmer Niclas Füllkrug von Werder Bremen. Füllkrug rutschte auf den letzten Drücker ins Kader, gegen Spanien bewährte er sich als Joker mit einem fulminanten Treffer zum Ausgleich.

Füllkrug lebt eine Bodenständigkeit, wie sie im Fussball der Gegenwart selten geworden ist. Seine Zahnlücke macht ihn, den Stürmer mit der Statur eines Möbelpackers, unverwechselbar. Tritt Füllkrug auf, mahnt er zur Mässigung und sagt, es sei nicht an ihm, Ansprüche zu stellen.

Niclas Füllkrug zeigt seinen Bizeps.

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Er konterkariert die Wichtigtuerei um ihn herum – und besetzt damit jene Leerstelle, ohne die das Ensemble entrückt erscheinen würde. Jahrelang kam diese Rolle dem Kölner Stürmer Lukas Podolski zu, an der letzten Europameisterschaft dem niederrheinischen Psychologie-Studenten Robin Gosens, der sich auf dem Umweg über Italien ins Nationalteam spielte.

Nicht umsonst kapriziert sich die Berichterstattung gerne auf solche Spieler, die dann «Typen» genannt werden. Es sind Karrieren, die keinem Plan zu folgen scheinen. Dem Erfolg, so hat es den Anschein, wohnt etwas Irrationales inne. Letztlich aber ist der Kult um solche Figuren nichts weiter als Folklore – und bloss ein weiteres Symptom dafür, wie fremd sich Mannschaft und Publikum geworden sind.

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