Deutschland muss sich neu erfinden
Andere Mannschaften haben nicht so gute Spieler wie Deutschland, dafür aber einen besseren Plan und mehr Struktur. Seltsam, das ist nicht gut, zwei Jahre vor der Heim-EM.
Gary Lineker hat nicht mehr recht. Fußball ist kein Spiel mehr, bei dem am Ende Deutschland gewinnt. In Katar setzen sich bislang die großen Nationen durch. Nur nicht wir, wie schon bei den zwei zurückliegenden Turnieren schied Deutschland früh aus.
In den Misserfolgen der letzten vier, fünf Jahre ist ein Muster zu erkennen. Deutschland ist die defensive Stabilität abhandengekommen, das Team kann niemanden vom eigenen Tor fernhalten. Jeder Gegner kommt zu Chancen, selbst Costa Rica und (im einzigen Testspiel) Oman. Deutschlands Spiel erleidet immer einen Bruch.
Dabei legte die deutsche Elf in allen drei Vorrundenspielen Leidenschaft, Einsatz und Aggressivität an den Tag. Der Gegner spürte, dass Spieler mit Qualität auf dem Platz standen. Aber es fehlten Strategie und Ordnung, es war nie klar, wer welche Rolle übernimmt. Die Elf Hansi Flicks war auch in Katar nicht eingespielt.
Nehmen wir als Gegenbeispiel die Argentinier, die ebenfalls gegen einen Außenseiter verloren. Dabei schoss Saudi-Arabien zweimal aufs Tor, drei eigene Treffer waren nur mit neuer Technik als Abseits erkennbar. Glück und Pech gehören nun mal zum Spiel.
Doch schon bei dieser Niederlage sah man, dass die Mannschaft von Lionel Scaloni dominant auftritt, weil sie gut organisiert ist. Mexiko und Polen hat sie dann in deren Hälfte eingeschnürt, um irgendwann Tore zu schießen. Der überlegene Boxer bereitet den Knock-out vor.
Dazu war die deutsche Mannschaft nicht in der Lage. Ihr misslang die Kontrolle übers Spiel. Damit diese möglich gewesen wäre, hätte sie sich aus der Defensive und aus dem Zentrum entwickeln müssen. Das ist ein Gesetz im Fußball. Diese Positionen – im Fachjargon vier, fünf, sechs, acht und zehn – müssen sich ergänzen, aufeinander einzahlen, blindes Verständnis füreinander entwickeln.
Und Stabilität entsteht nur durch Kontinuität. Es war allerdings lange nicht klar, wer im deutschen Zentrum verteidigt. Das Mittelfeld fand sich nicht, obwohl die richtigen Spieler dafür vorhanden sind. Ich war mir eigentlich sicher, dass sich Joshua Kimmich, Leon Goretzka und İlkay Gündoğan zu einer starken Einheit ergänzen werden, wenn man sie drei, vier Spiele zusammenlässt. Das war nicht der Fall.
Noch ein Problem: Wer von unseren schnellen Außenverteidigern welchen Beitrag zum Spiel beisteuern soll, wurde ebenso wenig ersichtlich wie ein Vorgehen in der Offensive. Dabei verfügt Deutschland über vier Angreifer mit sehr guten Fähigkeiten, Serge Gnabry, Jamal Musiala, Kai Havertz und Leroy Sané, zudem über die Alternativen Thomas Müller und Niclas Füllkrug. Darauf hätte ich mich viel früher festgelegt.
Im Fußball geht es um die Details auf dem Platz, für das Angreifen heißt das zum Beispiel: Wie dringe ich in den Sechzehner ein, ohne alles aufzugeben? Wie reduziere ich, wenn ich bei einem Dribbling einen Ballverlust in Kauf nehme, die Gefahr eines Konters?
Dieses Risikomanagement kann ein Team nur gemeinsam und aufeinander abgestimmt lösen. Die Argentinier sind stark darin. Den Deutschen fehlt dafür die Struktur – auch um ein Spiel aufzuziehen, das den Gegner erstickt, woraus dann Tore zwangsläufig resultieren.
Es wird eine herausfordernde Aufgabe für die Verantwortlichen mit Blick auf die EM in der Heimat in eineinhalb Jahren, eine Mannschaft zu formen. Deutschland muss sich neu erfinden, damit Lineker wieder recht hat.
Jedes Land hat in diesem Turnier seine Schwierigkeiten, auch die Favoriten und früheren Weltmeister. Frankreich hat mich am meisten überzeugt. Die Mannschaft ist komplett, hat Physis, Struktur und Technik. Die Abwehr ist stabil, das Mittelfeld denkt defensiv. Die Offensive um den herausragenden Kylian Mbappé verfügt über Power und Kreativität.
Doch weil die Elf es liebt, ihre Überlegenheit zu demonstrieren, frage ich mich, was passiert, wenn es mal nicht läuft. Dann wird es schwer, den Schalter umzulegen. Dass er die Reife hat, immer das Richtige im richtigen Moment zu tun, muss Mbappé noch beweisen.