Am Jahrestag der russischen Invasion ist Kanzler Olaf Scholz nach Indien geflogen. Report einer Reise, die ein Beweis für die Neuausrichtung deutscher Außenpolitik ist.
Es ist eine dunkle Berliner Nacht, als Olaf Scholz nach Indien aufbricht. Doch das Zeichen, unter dem die Reise stattfindet, leuchtet hell. Hoch oben hängt es an einem Flughafen-Fahnenmast. Angestrahlt von Scheinwerfern, neben der Kanzlermaschine, knattert im eisigen Wind: eine ukrainische Fahne. Das Banner weht in Cockpithöhe wie eine visuelle Mahnung: daran, dass in Europa Krieg herrscht, dass ein ganzes Land in Gefahr ist, dass Gewissheiten zerbrochen sind. Und daran, dass sich die Welt verändert hat.
Am Freitagabend geht Olaf Scholz an der Fahne vorbei, steigt ins Flugzeug und fliegt gen Osten. Kurz nach neun Uhr am Samstagmorgen landet er in Neu-Delhi. Die Luft ist staubig. Am Flughafen steht ein großes Foto von Scholz und dem indischen Premierminister Modi. Keine Spur von einer ukrainischen Flagge. Scholz steigt in ein bereitstehendes Auto, hinter ihm die Wagen der Delegation. Wie eine Schlange windet sich die Kolonne zwischen den Häusern durch die indische Hitze zu den indischen Regierungsgebäuden.
Schwere Mission
Scholz hat an diesem Wochenende viel vor. Der Kanzler ist am 24. Februar nach Indien gereist, dem Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Am Abend vor seinem Abflug saß Scholz noch bei "Maybrit Illner". Er habe die Sorge, dass sich dieser Krieg "noch sehr lange hinzieht", sagte er da.
Wie Scholz darauf reagieren will, zeigt seine Reise nach Indien. Und wie sich die geopolitische Landkarte verändert hat. Russland rückt für Deutschland immer weiter weg, andere Länder dafür näher heran. Vor allem Indien. Das Land ist riesig, fast 1,5 Milliarden Menschen leben dort, eine gigantische Wirtschaftsmacht. Vor allem aber ist Indien, anders als China, eine Demokratie. Ein neuer enger Verbündeter? Und wie steht die Bundesrepublik zu dem Land? Für Scholz geht es bei seiner Reise auch um eine neue Rolle Deutschlands in einer sich verändernden Welt.
Auf seiner Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt begegnet Scholz sich permanent selbst. Die Inder haben Dutzende Plakate von seinem Konterfei mit einem deutschen "Willkommen" aufgehängt. Die Limousine von Scholz braust daran vorbei, Soldaten mit Gewehren stehen mit dem Rücken zur Straße und bewachen die Strecke.
Indien inszeniert seine Größe
Kurz nach seiner Ankunft nimmt Scholz eine Militärparade ab. Die Szene wirkt etwas seltsam: Der Kanzler steht ohne den indischen Regierungschef unter einem winzigen roten Zelt, vor ihm erstreckt sich ein riesiger Platz. Die Inder spielen erst die deutsche, dann ihre eigene Nationalhymne. Dann schreitet der Kanzler ein großes Dreieck auf dem roten Teppich ab. So, wie Scholz allein an den vielen Soldaten, den Reitern mit Speeren und Turban vorbeizieht, könnte man meinen, es sei eine Demonstration der Inder, die ihre eigene Größe unterstreichen wollen.
Militärparade zu Ehren von Olaf Scholz in Neu-Delhi. (Quelle: IMAGO/Sondeep Shankar)
Anschließend tritt Scholz an ein kleines Pult. Vor Fernsehkameras sagt er ein paar Sätze, so abgezirkelt, dass sie alles offen lassen. Scholz weiß noch nicht, wie die Gespräche verlaufen werden. Er sagt also: "Wir haben bereits gute Beziehungen zwischen Indien und Deutschland. Und ich hoffe, dass wir diese weiter stärken werden." Man könnte es einen niederschwelligen Anfang nennen.
Jetzt steht neben Scholz auch Narendra Modi. Der 72-jährige indische Regierungschef ist seit acht Jahren an der Macht und tritt oft kühl auf. Aufregung ist ihm fremd. Bereits im vergangenen Mai trafen sich Scholz und Modi in Berlin. Der Kanzler lobte damals, Indien sei "wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und klimapolitisch" ein zentraler Partner für Deutschland. Es gibt ein Foto von dem Treffen, Scholz lächelt dabei erwartungsvoll. Modi sieht so aus, als wolle er sagen: "Schauen wir mal."
Indiens Verhältnis zu Russland ist problematisch
Scholz hofft, dass es diesmal anders läuft. Doch das wird nicht einfach. Modi wird sich den Deutschen nicht sofort an den Hals werfen. Schließlich hat Indien ein besonderes Verhältnis zu Russland. Auch in einer neuen Weltordnung lässt sich nicht alles auf den Kopf stellen.