Am Abend des 3. Dezember 1943 wurde im Neuen Theater Leipzig, dem Opernhaus der Stadt, „Die Walküre“ aufgeführt, es dirigierte der Generalmusikdirektor Paul Schmitz, die Ausstattung hatte der Bühnenbildner Max Elten besorgt. Richard Wagners Musikdrama endet mit Wotans Feuerzauber. In der Nacht auf den 4. Dezember 1943 erfolgte der schwerste Bombenangriff auf Leipzig, das Neue Theater ging in Flammen auf. Max Elten malte später das Inferno aus der Erinnerung. Das Bild ist die konsequente Summa eines Jahrzehnts systematischen Musikmissbrauchs im Leipzig des „Dritten Reichs“, der Verfemung, Vertreibung und Vernichtung umfasste.
Jetzt erinnert eine große und großartige Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum von Leipzig an die nationalsozialistische Instrumentalisierung von Mythos und Praxis dieser Musikstadt. Den Ehrentitel trug sie 1933 (und trägt sie noch heute) zu Recht: Wagner wurde hier geboren (er hat seine Heimatstadt nicht geliebt), Bach, Mendelssohn Bartholdy und Max Reger sind hier gestorben, Schumann und Mahler haben prägende und produktive Jahre in Leipzig verbracht. Das von Mendelssohn begründete Konservatorium war im neunzehnten Jahrhundert Vorbild für die meisten Musikhochschulen, auch im Ausland. Mit den Thomanern hatte die Stadt den ältesten Chor der Welt, mit dem Gewandhaus das älteste bürgerliche Orchester aufzubieten, durch das die Werke unter anderem von Beethoven, Brahms oder Bruckner uraufgeführt wurden. Mendelssohn war hier Kapellmeister, ihm folgten Nikisch, Furtwängler und Bruno Walter, um nur die heute noch Berühmtesten zu nennen. Ging es noch „klassischer“?
Aber mit dem Leipziger Sinfonie-Orchester der MIRAG (Mitteldeutsche Rundfunk AG) war in den Zwanzigerjahren ein Klangkörper dazugekommen, der sich unter dem häufigen Gastdirigenten Hermann Scherchen um Gegenwartskompositionen bemühte, und gleichzeitig glänzte das Neue Theater unter Leitung von Gustav Brecher mit Opern-Uraufführungen von Brecht/Weill („Mahagonny“) oder Ernst Křenek („Jonny spielt auf“). Mit der Avantgarde war 1933 Schluss. Brecher traf es sofort; er war jüdischer Abstammung und der antisemitische und antimodernistische Zeitgeist längst etabliert in Leipzig. Besonders hatte sich dabei Alfred Heuß in der „Zeitschrift für Musik“ hervorgetan, der schon 1923 anlässlich eines Gewandhaus-Auftritts von Igor Strawinsky den Untergang des Abendlandes beschworen („Foxtrots, Niggersongs und Bauernscheußlichkeiten“) und vier Jahre später gegen „Jonny spielt auf“ gegeifert hatte.
Widersprüchlichkeit der NS-Musikpolitik
Zum fünfzigsten Todestag Wagners hatte Brecher fürs Frühjahr 1933 einen Zyklus mit elf von dessen Opern geplant, von denen er als Generalmusikdirektor des Neuen Theaters sechs hätte dirigieren sollen. Doch er wurde zuvor seines Postens enthoben, genauso wie Bruno Walter im Gewandhaus. Ihnen folgten der schon erwähnte Paul Schmitz und Hermann Abendroth als Chefdirigenten und bessere Sachwalter der ideologisch vergifteten NS-Musikpolitik nach. Wobei Abendroth gerade erst in Köln wegen zu moderner Programmplanung entlassen worden war; die NS-Kulturpolitik, auch das zeigt die Ausstellung, war nicht frei von Widersprüchen. In Leipzig beeindruckte Abendroth dann so sehr, dass Goebbels ihn 1944 auf die „Gottbegnadeten“-Liste setzen ließ, die Kulturschaffende vor dem Einzug in die Wehrmacht schützte.
Ein weiterer „Gottbegnadeter“ war Paul Schmitz: „Ich kann ihn nur in den höchsten Tönen preisen“, hört man über ihn in der Ausstellung. Aus dem Munde seiner Tochter Erika ist das wenig überraschend, aber dass Schmitz nach dem Krieg in der DDR noch einmal Generalmusikdirektor der Leipziger Oper werden sollte, überrascht, zumal Abendroth im Gewandhaus wegen gleicher politischer Vereinnahmungen geschasst, allerdings dann in Weimar Chefdirigent wurde. Auch der Thomaskantor Günther Ramin, natürlich „Gottbegnadeter“, behielt 1945 seinen Posten. Wobei viel irritierender ist, dass einer seiner Nachfolger, der 1961 zum Thomaskantor bestellte Erhard Mauersberger, während des „Dritten Reichs“ am Eisenacher „Institut für Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gearbeitet und Partituren von Bach und Händel um unerwünschte Textpassagen bereinigt hatte – die er dann in der DDR noch singen ließ.