Auf Droge

Boris Palmer und Sahra Wagenknecht sind Abhängige, süchtig nach Aufmerksamkeit. Dafür riskieren sie alles, aber es wird ihnen nichts nutzen, meint Christoph Schwennicke.

Vor langer, langer Zeit, als die Welt noch analog war, die Menschen sich persönlich trafen und ihre Parolen nicht auf sozialen Netzwerken verbreiteten, sondern mit einem dicken Filzstift auf eine Pappe schrieben und an eine Holzlatte nagelten, da wartete auf den Treppenstufen des Stuttgarter Opernhauses jedes Jahr zum Dreikönigstreffen der FDP ein Mann namens Helmut Palmer auf die ankommenden Gäste.

Mit jedem Jahr, das verging, wurde Palmer noch etwas verschrobener, seine Parolen immer noch wütender und schräger. Irgendwann mündeten seine Salven nur noch im Refrain eines bekannten Kinderliedes. "Liberallala!!, Liberallala!!, Liberallalalala!!", scholl seine Stimme durch den Stadtpark. Palmer genoss diesen Auftritt und die kurzen Bilder in der "Tagesschau", auch wenn die wenigsten vor Ort wirklich Notiz von ihm nahmen.

Helmut Palmer, ein Obstbauer aus dem Remstal, wäre für sein Leben gern Politiker geworden. 30 Jahre lang versuchte er es. Sechsmal nahm er Anlauf für den Bundestag, siebenmal für den Landtag, nie hat es geklappt. Ein oder zwei Dutzend Mal kandidierte er für das Bürgermeisteramt in allen möglichen schwäbischen Kleinstädten. Er wurde es nie. Stattdessen geriet der Remstalrebell, wie man ihn nannte, immer mehr zur Karikatur seiner selbst.

Dem Wahnsinn anheimgefallen

Bürgermeister – das hat er seinem Vater schon geraume Zeit voraus – ist Boris Palmer geworden. In der Stadt, in der sein Vater starb. Ein recht erfolgreicher und Aufsehen erregender sogar. Es wird wenige Städte dieser Größe in Deutschland geben, die so bekannt sind über die deutschen Grenzen hinweg. Dass Friedrich Hölderlin lange in Tübingen lebte – und dort am Ende in einem Turm dem Wahnsinn anheimfiel –, dürften weniger Menschen wissen als den Namen des Bürgermeisters der Studentenstadt am Neckar.

Aber Palmer junior muss, auf Schwäbisch gesagt, Obacht geben, dass sein Agieren nicht auch immer stärker selbstkarikierende Züge trägt. Seinen Aufstieg und die damit verbundene Aufmerksamkeit generierte der Grüne von jeher damit, dass er gegen grüne Dogmen verstieß und sich dabei nicht verbiegen lassen wollte. Besonders in der Flüchtlingskrise 2015 erlaubte sich Palmer, vom bedingungslosen Willkommenskurs seiner Partei abzuweichen.

Spiel mit dem Feuer

Das erforderte Mut und verdiente Respekt. Zunehmend aber machte Palmer den Eindruck, dass ihm die Provokation mehr bedeutete als die Sache selbst. Das Spiel mit dem Feuer ist immer mehr zum Selbstzweck geworden. Zuletzt hatte er bei einem öffentlichen Auftritt in einem nicht zwingend erforderlichen Schlenker Bezug genommen auf den "Negerkönig" bei Pippi Langstrumpf und sich hinterher, als sich viele über Palmers unnötige Nennung des Begriffs aufregten, eine Parallele zum "Judenstern" gezogen.

Es ist wie bei Nero: Palmer will, dass es brennt. Es gibt ihm einen Kick, und die Dosis muss – wie bei einem Süchtigen – immer höher werden. Dieses Mal ging die Sache dann sogar dem Mann zu weit, der Palmer juristisch im Parteiausschlussverfahren vertrat, das die Grünen schon vor diesem Vorgang eingeleitet hatten. Rezzo Schlauch, langjähriger Grünen-Fraktionschef im Bundestag und Grünen-Urviech, kündigte Palmer seine Unterstützung auf.

Palmers Reaktion: Er möchte eine Auszeit nehmen. Eine Art Exerzitien veranstalten. Wenn es ernst von ihm gemeint ist, dann ist das ein löblicher Plan. Er wird aber nicht aufgehen. Politische Persönlichkeiten wie Boris Palmer sind von der Droge Aufmerksamkeit abhängig. Nirgendwo gibt es diese Droge in derart hoher Dosierung wie in der Politik. Sie hat schon sein Vater auf den Treppenstufen des Stuttgarter Opernhauses genossen. Aber das waren die analogen Zeiten und das Rauschmittel allenfalls vergleichbar mit einem guten Piece Haschisch.

Keine Auszeit von der Sucht

In digitalen Zeiten kommt diese Droge Crystal Meth gleich. Das Belohnungssystem der sozialen Netzwerke korrespondiert mit dem Belohnungssystem des Aufmerksamkeitsjunkies. Der große "Spiegel"-Reporter Jürgen Leinemann hat das in seinem Buch "Höhenrausch" trefflich für das Politikerdasein beschrieben. Von dieser Sucht gibt es keine Auszeit. Man lässt es bleiben oder macht weiter. Alles andere ist Selbstbetrug.

Sahra Wagenknecht von der Linkspartei ist eine ganz ähnliche Persönlichkeit wie Palmer. Auf sie baut ihre eigene Marke auf, indem sie sich vorsätzlich und in ganz zentralen Punkten von ihrer Partei abgrenzt. Und auch sie hatte sich nach einem Burnout einmal vorgenommen, die Finger ganz von der Politik zu lassen. Es ging nicht. Sie braucht diese Droge. Also ist sie schon lange Zeit wieder in aller Öffentlichkeit und in aller Munde.

Prinzip Abgrenzung

Es ist stark zu bezweifeln, ob Palmer und Wagenknecht mit ihrem Tun ihren jeweiligen Parteien zuvorderst auf den richtigen Weg helfen wollen. Es geht um sie, nicht um die Partei. Ihr ganzes Prinzip funktioniert nur in der Abgrenzung von den eigenen Leuten. Der Kitzel fürs Publikum besteht ja eben darin, dass Wagenknecht und Palmer Dinge sagen, die man nicht bei den Grünen oder den Linken vermuten würde.

Doch wehe, sie wären den Gegenpol der eigenen Partei los: Sie verlören sich in der Bedeutungslosigkeit. Weshalb auch Wagenknecht mit einiger Sicherheit nie eine eigene Partei gründen wird, sondern immer nur damit kokettiert. Und Palmer alles daran setzen muss (daher die Auszeit?), seine notorische Geltungssucht wirklich in den Griff zu bekommen. Sonst endet er so tragisch wie sein Vater. Bürgermeister hin oder her.

https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100176050/boris-palmer-und-sahra-wagenknecht-warum-ihre-sucht-gefaehrlich-ist.html